An einem Dienstagabend trat ich mit meinem Assistenten aus einen Laden, wo ich mich mit den Lebensnotwendigsten – Energydrinks – versorgte. Ich bat Tobias, so der Name dieses Assistenten, mir noch einige Kebaps zu besorgen und wackelte, meinen Einkaufswagen im Schlepptau, in die andere Richtung davon, als ich vor mir Stimmen hörte. Anscheinend eine Gruppe von hörbar älteren Personen, die ich, ob meiner schnelleren Gehgeschwindigkeit, bald einholte und auch überholen wollte. Ein älterer Herr war nicht schnell genug und bekam meinen Blindenstock an den Fuß. Da wurde er von seiner Begleiterin getadelt: „Achtung! Ein Blinder! Der ist ja soo arm!“. Dann konnte ich, gefahrlos für mich und ihn, an der Gruppe vorbeiziehen. Leider konnte ich wegen meines besser ausgebildeten Gehörs noch hören, wie sich die Gruppe über das unsägliche Leid der Blinden unterhielt. Da das Gehen mit dem Blindenstock alle Sinne und viel Konzentration beansprucht, riß ich mich zusammen um dieser erlauschten Unterhaltung nicht geistig nachzuhängen und verschob dieses Vorhaben auf später.
Dieses „Später“ kam als ich mich am heimischen Küchentisch neben einer Tasse Kaffee niederließ: War ich wirklich arm? So schweiften meine Gedanken, aber so fühlte ich mich gar nicht. Wussten diese älteren Menschen, aufgrund ihres längeren Lebens oder vielleicht gesehenen Leides etwas was mir verborgen war? Diese Unterhaltung der SeniorInnen erinnerte mich an meine Großeltern, die mir oft genug einschärften, Gott auf Knien zu danken, dass ich erst 1969 geboren war, sonst wäre ich bestimmt während des Dritten Reiches in der Gaskammer gelandet.
Aber dieser Umstand machte mich auch nicht ärmer. Gut, ich hatte Übergewicht – nur leichtes, war müde und hungrig, aber nicht arm! Ich hatte einen 40-Stunden-Job in einem Krankenhaus, in der Buchhaltung, eine eigene Firma, eine Frau an meiner Seite, die mich liebte – jedenfalls fast immer, und wir hatten ein Kaninchen, einen schwatzhaften Papagei und einen heiß geliebten Königspudel als Blindenführhund. Die Wohnung, in der wir lebten, gehörte uns, ebenfalls der Mercedes in unserer Garage. Mit dem konnten wir zwar nicht selbst fahren, doch mit Assistenz ist das ohne Probleme möglich. Vielleicht machte uns das arm?
Ich war nicht arm. Ich war und bin reich! Reich an FreundInnen, reich an AssistentInnen, reich an Hobbys und Ideen. Reich an Herausforderungen, ohne die das Leben langweilig wäre, und an guten Büchern, die ich noch, in meinen noch mindestens 80 Lebensjahren, unbedingt hören möchte. Gut, ich konnte nichts sehen. War also auch nicht den großteils optischen Verführungskünsten der Wirtschaft ausgeliefert, aber macht mich das wirklich arm?